JÜDISCHE ALLGEMEINE | 22.12.19 4 | PRO GRAMM Jüdische Allgemeine | 22. Dezember 2019 Apfelbaum und Souffleusen Autoren lesen auf dem Gemeindetag Schauspielerin, Autorin und Dramaturgin Adriana Altaras meint, sie sei so etwas wie ein »Sechser im Lotto«: »Ich bin eine Frau, Jüdin und habe Migrationshintergrund.« So etwas sei selten, betont sie – sehr zur Freude des Pub likums bei der Lesung aus ihrem Buch Die jüdische Souffleuse. Und spätestens bei der abschließenden Be- schreibung der Altaras’schen Familie und dem Chaos, wenn Chanukka und Weih- nachten zusammenfallen, gab es nieman- den mehr, der nicht lachte. »Während der Lesung von Christian Berkel hätte man eine Nadel fallen hö- ren können – so leise war es«, beschreibt Moderatorin Ellen Presser die Session, in der der Schauspieler aus seinem Buch Der Apfelbaum las. In dem Roman erzählt er die Familiengeschichte seiner verstorbe- nen Mutter. Für Berkel war es »ein sehr emotionales Erlebnis, vor einem jüdischen Publikum aufzutreten. Selten habe ich mich so aufgehoben gefühlt«. Berkel war besonders »von der sensiblen Gesprächs- führung« der Moderatorin beeindruckt. Dadurch konnte er »Dinge ansprechen, die ich so bisher nicht formuliert hatte«. Parallel lasen Dina und Leonie Spiegel am Freitagnachmittag unter dem Titel »Jetzt mal Tacheles« aus den jüdischen Lieblingswitzen ihres Vaters Paul, und die Autorin Lena Gorelik stellte ihr Buch Mehr Schwarz als Lila vor, in dem eine 17-Jähri- ge ihr Erwachsenwerden beschreibt – zwi- schen überschwänglichen Gefühlen und einer Klassenfahrt – ausgerechnet nach Auschwitz. Um Themen, »die einem pein- lich sind«, ging es bei der Lesung von Yael Adler. Die Ärztin hat sich in ihrem Buch Darüber spricht man nicht mit sogenann- ten Tabuthemen befasst. Bei der Session gab es jedenfalls kein Tabu. kat g r e b m L i o c r a M : o t o F Christian Berkel Freitag sagte Moderator Doron Kiesel, der wissenschaftliche Direktor der Bildungs- abteilung im Zentralrat: »Die Idee der Mi- litärseelsorge ist natürlich keine genuin jüdische«, sondern es gebe Vorbilder. Da- mit spielte er auf die Militärseelsorge der Kirchen an, die bereits 1957 Staatsverträge geschlossen haben. »Selbst wenn es das Angebot damals gegeben hätte, hätte die jüdische Gemeinschaft so etwas nicht rea- lisieren wollen, wegen der Vorbehalte ge- gen das deutsche Militär und die Traumata nach der Schoa«, so Kiesel. Erst in jüngster Zeit sei dann entschieden worden, in dieser Frage auf die Bundesregierung zuzugehen. Zuerst habe geklärt werden müssen, wie Juden zur Bundeswehr stehen, sagte Rab- biner Walter Homolka, der Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland, der selbst Oberstleutnant der Reserve in der Bundeswehr ist. Als Vertreter der Orthodoxen Rabbi- nerkonferenz Deutschland (ORD) saß der Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Sous- san auf dem Podium. Sein Bruder ist Mili- tärrabbiner bei den amerikanischen Trup- pen. »Der Staatsvertrag«, so Soussan, sei Ausdruck dessen, »dass wir heute sagen: Wir schützen nicht deren Demokratie, sondern unsere Demokratie«. Zentralratsgeschäftsführer Daniel Bot- mann sieht in Militärrabbinern einen gro- ßen Zugewinn sowohl für die Gemeinden als auch für die Bundeswehr. Die Tatsache, dass den deutschen Soldaten im Lebens- kundlichen Unterricht künftig Rabbiner jüdische Werte vermitteln werden, sei eine große Errungenschaft. »Damit leis- ten wir einen beachtlichen Dienst an der Gesamtgesellschaft, denn die Soldaten ha- ben Familie und Freunde, und sie sitzen an Stammtischen …« Aus dem Publikum fragte Alexander Sperling, der Geschäftsführer des Lan- desverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen: »Woher sollen diese zehn Rabbiner kommen?« Man sei besorgt in den Gemeinden, dass Rabbiner abgewor- ben werden. Diese Bedenken versuchte Botmann zu zerstreuen: »Es wird auch Militärrabbiner im Nebenjob geben – eine neue Chance vor allem für kleinere Ge- meinden, die sich keine Vollzeitrabbiner leisten können.« tok DEMOKRATIE In weiteren Sessions wer- den auch am Sonntag zahlreiche Experten über verschiedene Themen sprechen und den Zuhörern Rede und Antwort stehen. So diskutieren Marc Grünbaum, Chajm Guski, Anja Olejnik sowie Marat Schlaf- stein über Strategien gegen sinkende Mit- gliederzahlen. Zentralratspräsident Josef Schuster und unter anderem Staatssekre- tär Markus Kerber und Staatsministerin Annette Widmann-Mauz diskutieren über Perspektiven des jüdisch-muslimischen Di- alogs. IMPRESSUM Jüdische Allgemeine Chefredakteur: Detlef David Kauschke Zeitgeschehen: Martin Krauß Israel, Kultur, Wissen: Ingo Way Jüdische Welt: Tobias Kühn Unsere Woche: Heidelind Sobotka, Ayala Goldmann, Katharina Schmidt-Hirschfelder Kultur, CvD Online: Philipp Peyman Engel München: Helmut Reister (IKG) Auslandskorrespondenten: Sabine Brandes (Israel), Hans-Ulrich Dillmann (Lateinamerika) Autoren: Pieke Biermann, Richard Herzinger, Pierre Heumann, Helmut Kuhn, Viola Roggenkamp, Michael Wuliger Artdirektor: Marco Limberg Bildquellen: AP, dpa, ddp, epd, Reuters Dokumentation: Bettina Piper Online-Redaktion: Katrin Richter Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH Verlag: Jüdische Allgemeine, Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. Herausgeber: Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. Gründer: Karl Marx sel. A. 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Sie reichten von »Was bedeutet Israel und Zionismus für uns heute?« bis zu »Perspektiven des jüdisch-muslimischen Dialogs«. Rund 180 Referenten waren eingeladen – von A wie Dermatologin Yael Adler bis Y wie Nahost- korrespondent Gil Yaron. Zum Auftakt am Donnerstagnachmittag sprach der Historiker Michael Wolffsohn in seinem Vortrag »In Deutschland zu Hause!?« über die Entwicklung der jüdi- schen Gemeinschaft von 1945 bis heute. Er zeigte, wie Politik und Gesellschaft das jüdische Leben und damit auch das jüdi- sche Selbstverständnis und die Identifika- tion mit der Religion beeinflussten. Dabei nahm er politische, soziologische, demografische und ökonomische Fragen in den Blick. Das jüdische Selbstverständ- nis war vor 1945 ganz unterschiedlich ge- prägt. In den Zeiten der politischen Ruhe seien Juden 150-prozentige Deutsche ge- wesen, und die jüdische Identifikation war eher nebensächlich. Die Tragödie des 19. und 20. Jahrhun- derts sei eine doppelte gewesen. Vor 1930 hatten sich die deutschen Juden immer weniger mit ihrer Religion identifiziert und sich sogar abgewendet. Es folgte ihre physische Vernichtung in der Schoa. »Sie wurden für etwas ermordet, was ihnen gar nichts mehr bedeutete«, so Wolffsohn. »Wie wir wurden, wer wir sind« – Wolffsohns Vortrag wirkte trotz der für Laien oft schwer nachvollziehbaren politi- schen Vorgänge, angereichert mit persönli- chen Erfahrungen, locker und leicht. Grund- sätzlich gebe es für Juden in Deutschland nur zwei Sicherheiten: Israel und Amerika, »egal wer dort in der Regierung sitzt. Aber wir vertrauen der Willigkeit, Sicherheits- fragen ernst zu nehmen«. hso MUSEUM »Kein neutraler Ort«, »Jüdisch in Anführungszeichen« – das waren die Schlagzeilen zu den hitzigen Diskussionen um das Jüdische Museum Berlin (JMB) im Frühsommer. Gut ein halbes Jahr später diskutierten Zentralratspräsident Josef Schuster, der Publizist Alan Posener und der Kulturhistoriker Christoph Stölzl, der im Juni als Vertrauensperson für den Stif- tungsrat im Jüdischen Museum benannt worden war, um die Wogen zu glätten, die Frage: »Wie jüdisch ist (noch) das Jüdische Museum Berlin?« Dass es auf dem Podium keine einfa- chen Antworten geben würde, war von Anfang an klar. Was ist ein jüdisches Mu- seum? Soll es politisch Stellung beziehen? Welche Neuausrichtung strebt das JMB mit der neuen Direktorin Hetty Berg an? Die drei Referenten waren sich in vie- lem einig, diskutierten aber auch kontro- vers. So widersprach Josef Schuster Alan Posener vehement in der Frage, wie viel Mitspracherecht israelische Institutionen oder die israelische Regierung bei der Gestaltung der künftigen Museumsarbeit haben sollten. Einig waren sich die Refe- renten aber darin, die Geschichte und Ge- genwart der Juden in Deutschland sowohl für jüdische wie auch nichtjüdische Besu- cher umfassend darzustellen – gewiss ein Spagat und eine »Quadratur des Kreises«, wie es Christoph Stölzl formulierte. Dass dies »allerhöchstes Taktgefühl, größtes Wissen und viel Empathie« erfor- dert, habe die Debatte gezeigt, die die Kri- tik am Museum ausgelöst hatte. Die desig- nierte Direktorin Hetty Berg bringe genau das mit, sagte Josef Schuster. ksh BOYKOTT »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen« – wenn die CDU-Bundes- tagsabgeordnete Gitta Connemann diesen Satz hört, sträuben sich ihr die Haare. Und mit diesem Gefühl steht die Politikerin nicht allein da. Denn die mehr als 100 Teil- nehmer der Session »Der Bundestag ver- urteilt BDS – Ist der Kampf jetzt gewon- nen?« applaudierten zustimmend. Wie kann Aufklärung über die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) nachhal- tig gelingen? Darüber sprachen Staatsmi- nister Niels Annen (Die Linke), der DIG- Vorsitzende Uwe Becker, Sven-Christian Kindler (Bündnis 90/Die Grünen), Gitta Connemann (CDU) und der Publizist Arye Sharuz Shalicar mit Philipp Peyman Engel. »In den nächsten Jahren wird noch viel auf uns zukommen.« Arye Shalicar Könnte es vielleicht mithilfe des Antrags »BDS-Bewegung entschlossen entgegen- treten – Antisemitismus bekämpfen«, den die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen am 17. Mai geschlossen haben, geschehen? »Es wäre naiv zu glauben, dass mit einer Resolution des Deutschen Bundestags dieser Kampf gewonnen wäre«, sagte Annen. Arye Sha- ruz Shalicar, der in Berlin aufwuchs, be- tonte: »In den nächsten Jahren wird noch viel auf uns zukommen. Viel mehr, als wir glauben.« kat RELIGIONSFREIHEIT Im Panel »Beschnei- dung der Religionsfreiheit? Wie viel Reli- gionsfreiheit erträgt unsere Gesellschaft?« saßen Hermann Gröhe (CDU), Linda Teu- teberg (FDP) und Renée Röske, Bundesvor- sitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozi- aldemokraten und Sozialdemokratinnen, auf dem Podium. Kultur brauche Religion, meinte Hermann Gröhe. In der zuneh- menden religiösen Vielfalt sieht er eine Chance, die religiöse Frage wachzuhalten. Doch vor allem am Thema Kippa und Kopftuch im öffentlichen Raum entzün- deten sich die Gemüter. Man könne Kippa und Kopftuch nicht gleichsetzen, mein- te Gröhe, da die Kippa in keinem Span- nungsverhältnis stehe, mit dem Kopftuch jedoch eine Sexualisierung von Mädchen und Frauen einhergehe. Nicht jede Leh- rerin mit Kopftuch habe eine politische Agenda, widersprach Renée Röske. Auch eine Akademikerin mit Kopftuch stelle nicht automatisch die Neutralität des öf- fentlichen Raums infrage. ksh GEWISSENSPRÜFUNG »Wir müssen alle Hochschulen anschreiben und ihnen die jüdischen Feiertage vor den Latz knallen, und zwar sofort.« Charlotte Knobloch ist zornig, wenn sie hört, dass schon wieder eine wichtige Examensklausur an Jom Kippur angesetzt ist. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern meldete sich in der Ses- sion »Gewissensprüfung – Examen an jü- dischen Feiertagen« als Zuhörerin zu Wort. Auf dem Podium saßen der Frankfurter Gemeinderabbiner Avichai Apel, Volker Beck, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen, Markus Grübel, Beauftragter der Bundesregierung für weltweite Religi- onsfreiheit, und Mischa Ushakov, Vorsit- zender der Jüdischen Studierenden union Deutschland (JSUD). Es moderierte Detlef David Kauschke, Chefredakteur der Jüdi- schen Allgemeinen. Die Diskussion spitzte sich auf die Fra- ge zu: Ist das Zufall, oder hat es Metho- de? Markus Grübel plädierte dafür, das Thema politisch unbedingt aufzugreifen, schließlich würde man auch keinen Chris- ten dazu zwingen, an Weihnachten ein Examen abzulegen, und fügte hinzu: »Es ist sicherlich kein böser Wille, sondern fehlendes Bewusstsein.« Der Grünen-Politiker Volker Beck be- schäftigt sich schon seit Langem mit dem Problem. Wenn Dialog nicht helfe, müsse man den juristischen Weg gehen. »Sam- melt verschiedene Einzelfälle, die man dann vor Gericht bringen kann«, schlug er den Studierenden vor. Rabbiner Avichai Apel betonte: »Wir müssen Verständnis, Respekt vor der Religion einfordern.« Da- bei müsse man »in die Breite arbeiten«, sagte Apel, und den Respekt auf Schüler- und Kindergarten-ebene einfordern. »Mit hinreichendem Druck kann man auch die Praxis verändern. Jüdische Men- schen brauchen einfach auch Mumm und sollten entschlossen darauf drängen, dass die jüdischen Feiertage berücksichtigt werden«, sagte Beck. Mischa Ushakov sah in der Diskussion beim Gemeindetag zu- mindest einen Ansatz, die öffentliche De- batte anzuregen. hso MILITÄRRABBINAT Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags am