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kontinenz-aktuell - Ausgabe 03-2014

kontinenz aktuell November/20146 Originalarbeit Einleitung Die Einnahme von Anticholinergi- ka kann zu kognitiven Defiziten besonders bei Älteren führen; die- se sind mit kognitiven Leistungs- tests detektierbar (1) oder in spezi- fischen Labortests mit der „Serum- anticholinergen Aktivität“ messbar (2). So finden sich erhöhte anticho- linerge Serumspiegel bei deliran- ten Älteren (3) oder deliranten Pa- tienten einer Intensivstation (4); ei- ne erhöhte anticholinerge Last führt zu Veränderungen der Moto- rik (5) und war in Elektroenzepha- lografie-Ableitungen sichtbar (6). Zu den risikobehafteten Substan- zen gehören nicht nur Antidepres- siva, Antipsychotika, Antazida, Sedativa und Kardiaka, sondern auch die für die Behandlung der überaktiven Blase zugelassenen Antimuskarinika (7). Letztere Sub- stanzgruppe erscheint vor dem Hintergrund, dass die überaktive Blase als altersabhängige Erkran- kung besonders Hochbetagte mit altersbedingten kognitiven Ein- schränkung betrifft (8), die häufig schon einer Multimedikation unter- liegen, als besonders risikobehaf- tet. Zu den klassischen Nebenwirkun- gen des Zentralnervensystems (ZNS) gehören psychotische Episo- den, Gedächtnisstörungen und parkinsonartige Symptome (9–13). Darüber hinaus müssen auch Schlafstörungen durch einen veränderten REM-Schlaf (14; 15) unter anticholinerger Medikation und die Sturzneigung zu den „oc- culten“ ZNS-Nebenwirkungen ge- zählt werden. Beide Phänomene als ZNS-Nebenwirkungen unter anticholinerger Medikation zu se- hen ist deswegen schwierig, weil beide Phänomene – Schlafstörun- gen und Sturzneigung – ohnehin gehäuft bei Hochbetagten durch Altersvorgänge des Sensoriums, des Bewegungsapparates und des Trainingszustandes auftreten. Den- noch ist nicht nur eine separate Koexistenz von Harninkontinenz, überaktiver Blase (OAB), Schlaf- störungen und Sturzneigung denk- bar, sondern auch eine indirekte gegenseitige – negative – Beein- flussung. Wird mit dem Timed-up-and-go- Test die Zeit, die eine Person benö- tigt, um aus einem Stuhl aufzuste- hen, zehn Meter zu gehen, umzu- kehren und sich wieder hinzusetz- ten, und ein validierter Fragebo- gen zur Erhebung von Inkontinenz- beschwerden korreliert, findet sich ein statistisch signifikanter Zusam- menhang zwischen einer reduzier- ten Mobilität und dem Vorhanden- sein einer Harninkontinenz global sowie einer überaktiven Blase (16). Dabei ist eine Beeinflussung in beide Richtungen denkbar: so kann die Immobilität den Weg und die Erreichbarkeit der Toilette ver- schlechtern, andererseits führt die Pollakisurie und Nykturie bei impe- rativem Harndrang bei schon vor- handener Gangunsicherheit, Seh- störung und Schwindel zu einer Sturzgefährdung. Stürze stellen ein enormes medizi- nisches und sozioökonomisches Problem dar: so stürzten 30 Pro- zent der zuhause lebenden Perso- nen im Alter über 65 Jahre, aber 56 Prozent der zuhause lebenden über 90-Jährigen pro Jahr mindes- tens einmal (17; 18). Zehn Prozent der Stürze im Alter benötigen eine medizinische Versorgung, fünf bis zehn Prozent führen zu Frakturen; ein bis zwei Prozent zu einer Schenkelhalsfraktur (19). Wäh- rend sechs von 1.000 Stürzen zu- hause in einer Hüftfraktur resultie- ren, sind es im Heim 60 von 1.000 (20). Dramatisch stellen sich auch die mittelbaren Sturzfol- gen dar: es steigt die Heimeinwei- sungsrate; bei 40 Prozent der Be- troffenen wird der körperliche Akti- vitätsgrad vor dem Sturzereignis nicht wieder erreicht (21–23). Die Folge-Sturzrate steigt (24), die Le- bensqualität ist infolge der Sturz- angst verschlechtert (25; 26). Es kommt zu einem Teufelskreis aus Sturz, Sturzangst, Bewegungsver- meidung, Immobilität, sozialer Iso- lation, Depression und erneuten Stürzen. Zu den intrinsischen Risi- kofaktoren gehören unter anderem das Wohnumfeld mit Toilettensitua- tion, Beleuchtung, Stolperfallen. Diese sind zum Beispiel bei einem Hausbesuch gut zu überprüfen und zu optimieren. Extrinsische Ri- sikofaktoren offenbaren sich nicht so leicht. Hierzu werden neben vo- rangegangenen Sturzereignissen, weibliches Geschlecht, Alter, be- stimmten Erkrankungen (Herz- Kreislauferkrankungen, arterielle Hypotonie, Diabetes, Depression, Schlaganfall, Inkontinenz und Nykturie) auch die (anticholinerge) Medikation gezählt. Diese Liste an Erkrankungen erscheint logisch deswegen, weil alle diese zu Stö- rungen der Koordination oder zu Synkopen wie der Diabetes im Rahmen einer Hypoglykämie (27) oder zu einer gestörten Nachtruhe wie die Nykturie, zu einer Sarko- penie oder einer OAB führen kön- nen (28–30). Häufig führt auch die zur Therapie der genannten Erkrankungen ein- gesetzte Medikation zu einer Sturzgefährdung: neuropsychiatri- sche Medikamente wie Antide- pressiva, Sedativa oder Anxiolyti- ka und vor allem auch anticholi- nerge Substanzen besitzen hier ein erhebliches Risikopotenzial. Zu diesen zählen nicht nur die „urolo- gischen“ Präparate zur Therapie einer OAB, sondern auch Substan- zen mit anticholinerger Nebenwir- kung in völlig anderen Indikatio- nen (Tab. 1). Ein unterschätztes Problem in die- sem Zusammenhang ist die „anti- cholinerge Last“ beziehungsweise die Komplexizität des „choliner- gen Systems“. Ein Teil des Phäno- mens ist dabei die Multimorbidität, die Multimedikation und auch „Multi-Iatrogenität“. So wird neu- rologischerseits leitliniengerecht mit zentral wirksamen Cholinergi- ka auf azetylcholin-haltige Neuro- ne in der Demenztherapie zuge- griffen, urologischerseits wird bei der überaktiven Blase die Detrusor-

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